Kapitel 37

Kapitel 37 ~ Dies sollte das letzte mal sein, dass er An Yu traf

 

Als Hua Che das geheime Reich verlies, spürte er die Aura von jemand anderem. Er sagte nichts, sondern sah nur in dessen Richtung.

An Yu hatte nicht vor, sich länger zu verstecken, weshalb er gehorsam aufstand und Hua Che mit einem tiefgründigen Blick ansah.

Vermutlich hatte An Yu ihr gesamtes Gespräch gehört.

Die beiden sahen sich an, aber keiner sprach ein Wort.

Keiner wusste, wie viel Zeit vergangen war, bis Hua Che schließlich seine Lippen zu einem Lächeln verzog und An Yu grüßte.

An Yu schien Angst zu haben und verneigte sich schnell.

In manchen Dingen musste man sich nicht einmischen oder sie erklären, denn alles war selbsterklärend.

Kurz nachdem Hua Che das geheime Reich verlassen hatte, verbreitete sich die Nachricht, dass Lu Mingfeng Selbstmord begangen hatte.

Am Ende hatte er sich dafür entschieden, sich in die Luft zu sprengen. Sein Körper wurde dabei vollständig zerstört, ohne auch nur Knochen zurückzulassen. Er hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, ein Geist-Kultivierender zu werden.

Für einen Menschen wie Lu Mingfeng, welcher ein starkes Selbstwertgefühl besaß, war der Verlust seines Rufs das Ende der Welt. Öffentlich gedemütigt zu werden war für ihn schlimmer als der Tod.

Chu Changfengs Verletzung war nicht sonderlich schlimm, aber dennoch benötigte er anderthalb Jahre Ruhe. Mu Qinian war so dankbar für diese lebensrettende Gnade, dass er persönlich mit einem großzügigen Geschenk nach Yuntian Shuijing eilte, um seine Dankbarkeit auszudrücken.

Das Wanmen-Kampfsportturnier war zu Ende und auch die Unruhen in der unsterblichen Sekte Shang Qing ließen nach. Nach dieser Katastrophe war Lu Mingfengs Ruf ruiniert, Lu Yao verschwunden und viele Angelegenheiten innerhalb der Sekte wurden vorübergehend dem Ältesten Qianyang überlassen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sektenführer Lu zwar das Gesicht eines Menschen, aber das Herz eines Monsters hat. Er und sein Sohn haben wie verrückt gewütet, sie haben seine Schüler getötet und wollte sogar Hua Che ermorden”

„Das stimmt. Man kann einen Menschen wirklich nicht vollständig kennen. Man kennt nur das Gesicht, aber nicht das Herz”

„Ich befürchte, dass Hua Che ohne das Glück dieser jungen Schüler und die Unterstützung der Ältesten sowie der drei großen Sekten der Unsterblichen in Schwierigkeiten geraten wäre”

In der Vergangenheit war die stolze und edle unsterbliche Sekte Shang Qing wie ein Teich mit konstantem Wasser gewesen. Die Volkgeschichtenerzähler, welche ursprünglich mit Lu Mingfengs großartigen Leistungen ihr Geld verdient hatten, überarbeiteten schnell ihre Geschichten und verwandelten die ursprünglich lobenden Worte, welche die Zuhörer zum Weinen brachten, in wütende, kritisierende Worte.

Etwa einen halben Monat später war es für die großen Sekten der Unsterblichen an der Zeit nach Hause zu gehen und auch die Gruppe des Ling Xiao Tempels verließ den Kunlun-Berg. Unterwegs traf Hua Che auf An Yu.

An Yu hatte seine hundertjährige Kultivierung aufgegeben und seine Seele benutzt, um von dem Körper des alten Mannes Besitz zu ergreifen. Obwohl er einer himmlischen Bestrafung mit Blitz und Donner entgehen konnte, betrug seine Lebenserwartung nur noch zwanzig bis dreißig Jahre. Für einen Kultivierenden war das nur so viel wie ein paar Sekunden.

An Yu benutzte Krücken und konnte nur zwei Schritte gehen, bevor er vollkommen außer Atem war. Er musste lange husten, bis er sich allmählich erholte und mühsam sagen konnte: „Vielen Dank”

Hua Che erwiderte nicht viel, sondern nur: „Pass auf dich auf”

Kultivierende unterschieden sich von Sterblichen. Oft war es so, dass wenn sie einmal in Abgeschiedenheit kultivierten, das lange Leben eines Sterblichen vergangen war.

Dies sollte das letzte mal sein, dass er An Yu traf.

Als sie zu dem Ling Xiao Tempel zurückgekehrt waren und die Aufregung von dem Wanmen-Kampfsportturnier nachgelassen hatte, kehrten sie wieder zu ihrem ruhigen und friedlichen Leben von früher zurück.

Neben Hua Che, Chu Binghuan und Mu Rongsa, den Top Drei bei diesem Turnier, hatte Lin Yan, welcher unter die Besten einhundert gekommen war, ebenfalls viel Aufmerksamkeit erregt. Obwohl er den Kampf gegen Duan Tiange kläglich verloren hatte, hatte seine wilde Entschlossenheit, welche weder demütig noch arrogant gewesen war, wirklich alle überrascht. Ganz zu schweigen davon, dass er im letzten Moment auch noch den mystischen Chongming-Vogel hervorgebracht hatte.

Nein, hervorgebracht war das falsche Wort. Man sollte besser sagen, dass dieser aus seiner Hülle gebrochen war.

Das Ei, welches er ein Jahr lang sorgfältig aufgezogen hatte, war keine giftige Python gewesen, sondern der göttliche Chongming-Vogel. Nicht nur Hua Che, sondern auch Zhuang Tian waren schockiert, als sie davon erfuhren.

Der Meister und seine neun Schüler analysierten die Umstände sorgfältig und kamen schließlich zu dem Schluss, dass dieses Ei ursprünglich als Mitternachtssnack von Suzerain gedacht war, aber bevor er es genießen konnte, war er von Chu Binghuan getötet worden.

Das Geheimnis über sein Leben war nicht mehr wichtig. Ob es nun ein Chongming-Vogel oder ein Fasan war, Lin Yan liebte ihn dennoch.

Dies war sein allererstes spirituelles Tier und so etwas wie sein Kind.

Es gab jedoch noch ein anderes Ei!

Damals hatten sie unter dem Nest der Python zwei Eier gefunden. Eines davon war der Chongming-Vogel gewesen.

Mu Rongsa vermutete: „Es muss ebenfalls ein Chongming-Vogel sein. Das sind Zwillinge!”

Was Mu Rongsa sagte, war logisch und selbst Hua Che konnte es nicht widerlegen. Lin Yan erinnerte sich an all die Einzelheiten, als der Chongming-Vogel aus seinem Ei geschlüpft war und beschloss, es nachzuahmen, indem er sein Blut auf die Eierschale tropfen lies und einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang wartete.

Nichts passierte.

Mu Rongsa sprang als Erster zu ihm, um ihn zu trösten. „Seine Schwester wurde bestimmt mit unzureichender fötaler Energie gelegt, weshalb sie erst später aus ihrer Schale brechen kann. Lass dich nicht entmutigen!”

Lin Yan glaubte Mu Rongsas Blödsinn voll und ganz.

Da die ersten drei Plätze des Wanmen-Kampfsportturniers von den Schülern des Ling Xiao Tempels belegt worden waren, war der Status des Ling Xiao Tempels in der Welt der Unsterblichen nun ein völlig anderer. Ganz zu schweigen davon, dass der erste Platz mutig Lu Mingfengs böse Taten aufgedeckt und einen neuen Trend für den rechtschaffenden Weg in der Welt der Unsterblichen etabliert hatte. Jeden Tag kamen und gingen unzählige Kultivierende zum Ling Xiao Gipfel. Sie bemühten sich um die Gunst des Ling Xiao Tempels, wollten einen Blick auf die Kampfkünste werfen oder einfach nur Freunde finden. Es herrschte drinnen und draußen geschäftiges Treiben und erfüllte die Luft mit der Atmosphäre einer berühmten Familie.

Chu Changfeng war schwer verletzt worden, weshalb Yuntian Shuijing ohne Sektenführer dastand. Obwohl Mei Cailian einen angesehenen Status hatte, war sie noch immer eine Frau und konnte nicht die Verantwortung für die gesamte Sekte übernehmen.

Zhuang Tian gab Chu Binghuan die Erlaubnis, zu seiner Sekte zurückzukehren, damit sich dieser vorübergehend um alle Angelegenheiten von Yuntian Shuijing kümmern konnte.

In seinem früheren Leben hatte Chu Binghuan gedacht, dass Hua Che eine Schwäche für Lu Yao hat. Er hatte vermutet, dass Hua Che seine Schattendämonen zu Lu Yao geschickt hatte, um ihn heimlich zu beschützen oder alle Kräfte mobilisiert hatte, um ihn zu retten.

Wenn er die Situation in diesem Leben jedoch noch einmal betrachtete, hatte Hua Che sein Bestes versucht, um Lu Yao zu töten und überhaupt keine Gefühle für ihn gehabt. Daraus lies sich schließen, dass Lu Yao in seinem letzten Leben genau wie in diesem Leben gewesen war und mit Lu Mingfeng zusammengearbeitet hatte. Deshalb war Hua Che verzweifelt gewesen.

Warum aber hatte er Lu Yao nicht getötet? Anstatt ihn zu töten hat er sogar jemanden geschickt, der ihn beschützen sollte.

Hatte er ihn nicht töten können?

Chu Binghuan fragte ihn nicht und machte auch nicht deutlich, dass er ebenfalls wiedergeboren war.

Hua Che hatte viele Sorgen auf dem Herzen. Schließlich verband sich der Hass und der Groll seines vorherigen Lebens mit diesem Leben und wenn Chu Binghuan ihn zu schnell auf seine Wiedergeburt ansprechen würde, könnte er die aktuell schöne Situation zerstören und sie außer Kontrolle geraten lassen.

Hua Ches Mentalität hatte sich nach seinem Tod verändert. Er war nicht mehr so hartnäckig und verstrickt und auch nicht mehr so...stur in Bezug auf sich selbst.

Chu Binghuan befürchtete, dass wenn er jetzt das Thema Wiedergeburt ansprechen würde, Hua Che sich auf der Stelle umdrehen, bis ans Ende der Welt fliehen, sich an Orten verstecken würde, an denen das Meer tot und die Felsen verfault waren und er ihn nie wieder sehen würde.

Hua Che hatte ihn aufgegeben.

Das konnte man daran erkennen, dass er nach Yuntian Shuijing gegangen war, um die Verlobung aufzulösen.

Hua Che hatte einmal gesagt: „Mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, mein Kindermädchen ist tot und mein Meister und meine Freunde sind weg. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch irgendetwas auf dieser Welt gibt, was mich Nostalgie empfinden lässt”

Er war alleine gewesen und hatte geglaubt, dass Chu Binghuan ihn bis ins Mark verabscheuen würde und sich nicht mit ihm versöhnen könnte, weshalb er genauso gut durch die Hand des Menschen sterben konnte, den er liebte. Unerwarteterweise hatte sich sein Geliebter geweigert, ihn sterben zu lassen.

Hua Che hatte das positiv überrascht. Wie sich herausstellte, war doch noch etwas von seinem “Wunschdenken” in ihm gewesen, welches noch nicht zusammengebrochen war und seine Hoffnung auf das Leben neu entfacht hatte.

Was hatte Chu Binghuan jedoch gemacht?

Sein Herz schmerzte.

Hua Che bereute es!

Er bereute es, sich in ihn verliebt zu haben, bereute es, sich ihm aufgedrängt zu haben, bereute es, ihn als Hoffnung für sein Leben angesehen zu haben.

Chu Binghuan war jedes mal angsterfüllt, wenn er daran dachte.

Er hatte Angst, dass Hua Che aufgrund ihrer Beziehung das Vertrauen in sein Leben und die Hoffnung auf morgen verlieren würde und deshalb...

Hua Che war der Dämonenkönig gewesen. Seine Kultivierung hatte ausgereicht, um überall in den neun Staaten bekannt zu werden und seine Herrschsucht hatte ausgereicht, um sowohl die Welt der Unsterblichen als auch die der Dämonen zu schockieren. Warum hatte er überhaupt kampflos aufgegeben? Er hatte die Fen Qing Palasthalle aufgelöst, ohne zu kämpfen.

Sein Herz war tot gewesen und er hatte kein Interesse mehr am Leben gehabt, also hatte er nicht mehr kämpfen wollen?

Hua Che war zum Bambushaus hinter der Fen Qing Palasthalle gegangen, welches dem Wohnsitz von Yuntian Shuijing nachempfunden gewesen war. Dies war damals der einzige Ort gewesen, an dem sich Hua Che wohl gefühlt hatte.

Dort war er gestorben.

Chu Binghuan konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand in den neun Staaten Hua Che so zurichten konnte, außer es war Hua Che selbst gewesen, welcher seine Seele zerstreut und seinen goldenen Kern und seinen Körper zerstört hatte.

Selbstmord.

Chu Binghuan war zu diesem Entschluss gekommen und zitterte jedes mal, wenn er davon träumte und aufwachte.

Genau in diesem Moment trat ein Dienstmädchen mit gesenktem Blick vor das Haus und berichtete: „Herr, Meister Hua Qingkong ist hier. Er befindet sich im Yuntian-Pavillon und wartet darauf, Euch zu sehen!"




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